Steuerrecht einfach erklärt

Kalte Progression verstehen

Was ist Progression, was ist kalte Progression und warum verstehen Journalisten den Unterschied nicht?

Henrik Massow

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Deutsches Steuerrecht ist kompliziert — so jedenfalls die weitläufige Meinung. Als Steuerberater kann ich da nur sagen: Ja, das stimmt.

Steuererklärungen auf Bierdeckeln sind daher ein verständlicher Wunsch, verständlich auch, dass derartige Ideen regelmäßig großen Applaus ernten — ob so etwas am Ende wirklich gerechter wäre, ist ein anderes Thema. Ein ähnlicher Dauerbrenner und irgendwie eng mit der “Steuererklärung auf einem Bierdeckel” verbunden, ist die Forderung nach einem einfachen Steuertarif, insbesondere die sog. flat tax wird oft als Retterin der deutschen Wirtschaft ins Feld geführt.

Sind diese Themen erstmal angerissen, dauert es auch nicht lange, bis irgendwo jemand “kalte Progression” in den Raum wirft und die Forderung aufstellt, selbige sei ungerecht und müsse schleunigst weg — was grundsätzlich stimmt.

Das Problem ist, dass mindestens 50% der Schreihälse überhaupt nicht wissen, was kalte Progression eigentlich ist und was sie denn eigentlich weg haben wollen. Das noch größere Problem ist, dass auch viele Journalisten und Nachrichtenredakteure dies nicht wissen und ihrem Publikum meist dummes Zeug erzählen.

Nun gut, Aufklärung folgt jetzt!

Was ist ein Steuertarif?

Was wir bei (nahezu) jeder Steuer brauchen, ist eine Bemessungsgrundlage, also z.B. das Einkommen, der Wert des Erbes, der Umsatz. Außerdem brauchen wir noch einen Steuersatz. Haber wir beides, gilt im einfachsten Fall:

Steuer = Steuersatz x Bemessungsgrundlage

Haben wir — wie im Körperschaftsteuerrecht — einen einzigen Steuersatz (nämlich 15%), ist diese Rechnung so einfach wie oben beschrieben. Unser Tarif ist stets 15% und die Funktion, die uns den anzuwendenden Steuersatz ermittelt lautet y=15%.

Es gibt jedoch Steuern, bei denen der Steuersatz nicht gleichbleibend, sondern von der Höhe des Einkommens abhängig ist. In diesen Fällen ist der Steuertarif durch eine mehr oder weniger komplizierte Steuertariffunktion zu ermitteln — die auch als eine Tabelle dargestellt werden kann.

Wer mal ein Beispiel für eine komplexe Steuertariffunktion sucht, wird in § 32a EStG fündig. Dort steht/stehen nämlich die Formeln zur Ermittlung der Einkommensteuer (und damit auch für die Lohnsteuer, die ja nur eine Erhebungsform der Einkommensteuer ist).

Steuertarif im Einkommensteuergesetz — Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/estg/__32a.html

Wobei wirklich niemand dies “zu Fuß” berechnen muss, dies ist heutzutage “Computersteuerrecht” und mit Sicherheit auch das geringste steuerliche Problem. Jeder Computer rechnet solch eine Formel in Sekundenbruchteilen hinreichend genau aus.

Was ist ein progressiver Steuertarif?

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Proportionaler Tarif

Schauen wir zunächst noch mal auf die Körperschaftsteuer und malen uns ein Diagramm.

Dann sehen wir hier als roten Strich, an der rechten Achse, dass der Steuersatz immer 15% beträgt, egal wie hoch unser Einkommen (untere Achse) auch sein mag. Unsere Steuer (blauer Strich) wächst immer proportional mit dem Einkommen.

proportionaler Tarif

Progressiver Tarif

Kommen wir jetzt zur deutschen Einkommensteuer. Hier hat der Gesetzgeber sich entschieden, den Steuersatz mit zunehmendem Einkommen steigen zu lassen. Das ganze nennt sich progressiver Tarif und sieht etwa so aus.

progressiver Tarif

Was wir hier sehen ist, dass der Steuersatz mit zunehmendem Einkommen steigt (rote Linie, rechte Achse).

D.h. bei einem progressiven Steuersatz nimmt die Steuer mit zunehmendem Einkommen nicht nur dadurch zu, dass die Basis sich erhöht, sondern zusätzlich auch der Prozentsatz selbst steigt.

Wie man hier ebenfalls sieht, ist der Anstieg des Steuersatzes nicht überall identisch, sondern verläuft unterschiedlich steil und ist weiter oben praktisch gedeckelt. Eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers.

Degressiver Steuertarif

Der Vollständigkeit halber, sei hier auch noch mal die Möglichkeit eines degressiven Steuertarifs dargestellt. Ein solcher dürfte wohl aber auf allgemeines Unverständnis stoßen, es sei denn man gehört gerade zur Kaste der Einkommensmillionäre und “Leistungsträger”. 😈

Diskussion um die Progression

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Die Progression im deutschen Einkommensteuerrecht ist schon seit Jahrzehnten Gegenstand endloser Debatten.

Die Grundidee hinter der Progression ist die, dass Besserverdienende eben nicht nur proportional höhere Steuern zahlen sollen, sondern von jedem zusätzlich verdienten Euro auch einen zusätzlichen Anteil an die Gemeinschaft zurückgeben sollen, immerhin haben sie ja auch überproportional von dieser Gemeinschaft profitiert.

Naturgemäß sehen die entsprechenden Personen dies anders und im wesentlichen ihre persönliche Leistung im Vordergrund und die Progression als Bestrafung von Leistung und Erfolg.

Die medienwirksamen Diskussionen um die Abschaffung der Progression werden in meiner Wahrnehmung daher auch nicht unbedingt von Freunden des “kleinen Mannes” angezettelt, sondern zielen eher darauf ab, Besserverdienenden steuerliche Erleichterungen zu bringen.

Allerdings lässt sich die Empörung bei vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gut verstehen, denn wie wir sehen, geht die rote Kurve gerade im unteren Bereich recht steil nach oben.

D.h. Folge der Progression ist, dass gerade von kleineren Lohnerhöhungen oder Einmalzahlungen oft nicht viel Nettogehalt auf dem Konto ankommt.
Aber um es klar zu sagen: Dieser Effekt hat NICHTS MIT KALTER PROGRESSION zu tun, sondern ist reine, vom Gesetzgeber gewollte Progression.

Der Gesetzgeber könnte die Tarifkurve sehr leicht unten verflachen und erst später steiler verlaufen lassen.

Was ist denn nun diese verdammte kalte Progression?

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Wie gesagt, die Progression hat bewusst das Ziel, dass von mehr Einkommen auch anteilig mehr Steuern gezahlt werden sollen und von Lohnsteigerungen immer etwas mehr Steuern einbehalten werden. Dabei hat der Steuerpflichtige aber Netto immer noch eine Steigerung seines Einkommens.

Die kalte Progression ist hingegen ein Effekt, der sozusagen “von hinten durch die kalte Küche” kommt.

Wenn wir nämlich annehmen, dass wir jährlich eine allgemeine Teuerungsrate (Inflation) von 2% haben und wir es in Verhandlungen schaffen, unser Gehalt mit diesem Trend steigen zu lassen, dann werden wir auf dem Papier immer reicher. Unser Einkommen steigt dann Jahr für Jahr um 2%.

Das Problem ist, dass wir tatsächlich (real) in unserem Beispiel nicht wirklich reicher werden, weil unsere Lebenshaltungskosten ebenfalls um 2% steigen. Unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit steigt einfach gar nicht.

Doch was passiert im Steuertarif? Richtig! Wir steigen mit unserem Einkommen immer weiter nach oben, der Steuersatz nimmt weiter zu, wir leisten höhere Steuerbeiträge und haben wirtschaftlich (nicht auf dem Papier) weniger Einkommen zur Verfügung! Kurz: wir werden real ärmer!

Im krassesten Falle wären wir plötzlich alle Millionäre und Spitzenverdiener, würden höchste Steuersätze zahlen, obwohl wir uns kaum noch die Miete leisten können.

Was kann der Gesetzgeber tun?

M.E. gäbe es viele Möglichkeiten. Die einfachste wäre sicherlich eine Flat Tax. Ob dies jedoch eine gerechte Sache ist wage ich zu bezweifeln.

Die zweite Lösung wäre, dass der Gesetzgeber jedes Jahr den Tarif um die Inflation anpasst. Das wäre relativ einfach möglich, zumindest wenn man es um jeweils ein Jahr versetzt machen würde. Der Gesetzgeber müsste die Bundesbank oder eine Statistikbehörde beauftragen, die maßgebliche Inflationsrate bekannt zu geben und würde im Gesetz anordnen, dass die Schwellen des § 32a EStG sich automatisch um diesen Satz erhöhen. (grob vereinfacht)

Natürlich könnte der Gesetzgeber auch auf die Tarifparteien einwirken, dass Lohnsteigerungen deutlich über der Inflationsrate ausfallen. Volkswirtschaftlich m.E. die beste Lösung, aber ein anderes Thema.

Ist die kalte Progression wirklich ein Problem?

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Wer mein Beispiel oben gelesen hat, könnte jetzt geneigt sein vors Kanzleramt zu ziehen und dort eine Demo gegen die kalte Progressionen abzuhalten. Insbesondere weil uns Deutschen ja eine genetische Angst vor Inflation innewohnt liegt dieser Impuls nahe.

Gemach, gemach! Es gibt sichee tausend gute Gründe vorm Kanzleramt zu demonstrieren, die kalte Progression ist aber bestimmt nicht das dringlichste Problem. Denn wie schon weiter oben geschrieben, gehen die Diskussionen um die kalte Progression oder die Progression selbst, selten auf echte “Freunde des kleinen Mannes” zurück.

Zumal weder das Thema Progression und erst recht das Thema kalte Progression — trotz aller im Netz kursierender Rechenexempel und theoretischer Extrembeispiele — in der Praxis keine echte Rolle spielen.

Weder die allgemeinen Lohnsteigerungen, noch die allgemeinen Teuerungsraten haben sich in den letzten 15 Jahren so dramatisch verändert, dass wir plötzlich alle im Spitzensteuersatz angekommen sind.

Außerdem ist es ja nicht so, dass die Tarifvorschriften und die steuerlichen Freibeträge in den letzten Jahren überhaupt nicht angepasst worden sind.

Es gibt sicherlich tausende Ungerechtigkeiten im deutschen Steuerrecht. Die Diskussion um (kalte) Progression ist und bleibt jedoch eine Phantomdebatte.

Um es aber noch mal klar zu sagen: Das von Lohnsteigerungen oder Einmalzahlungen weniger in der Tasche bleibt ist Progression. Dass wir durch Lohnsteigerungen, die durch Inflation aufgefressen werden, real keine Einkommenssteigerungen erzielen, gleichzeitig im Steuertarif nach oben klettern, ist kalte Progression.

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